Hier findest du Texte aus meinem Newsletter #MatristischeModerne

Es wird weiter

die Sommerpause ist vorbei und es scheint, der Alltag kehrt zurück zu bekannteren Bahnen. Doch geht das überhaupt? Und will ich das überhaupt? Denn, auch wenn Struktur und Routinen wichtig sind, das Leben ist bestimmt nicht langweilig gedacht.

Entsprechend seiner Natur hält jeder Moment Unbekanntes und Überraschung bereit, während er zugleich eine unerschütterliche Grundstruktur aufrecht hält. Da wir Menschenwesen jedoch seit ein paar Jahrhunderten (oder ein bisschen länger) in einem System leben, das den Wert von ständiger Aktivität über alles stellt, und weil Menschenwesen ihrer Natur nach sozial und anpassungsfähig sind, nehmen wir nachhaltig Einfluss auf die komplexe Natur eines jeden Moments.

Selbst wenn es ein Nicht-Tun per se gar nicht gibt – das Nichts und damit auch Unbekanntes, macht uns eine höllische Angst, weil wir häufig nichts damit anzufangen wissen. Obendrein lässt sich die Energie von Angst nicht beseitigen durch aktives Tun, sprich durch den Versuch von Kontrolle. Zumindest können wir so tun, als ob wir keine Angst hätten, indem wir versuchen, die Energie von Angst zu vermeiden, zu ignorieren, zu bekämpfen. Unsere persönliche Lieblingsstrategie lernen wir früh im Leben von den Menschen, die in unserer Nähe sind. Manchmal wenden wir auch das Gegenteil von dem an, was wir erleben. Doch ganz gleich, wie eine Strategie aussieht, was alle vereint ist Hilflosigkeit. Menschenwesen wissen nicht (mehr), wie sie Angst, Nicht-Tun, Unbekanntem anders begegnen können, als so wie es ihnen beigebracht wurde. Und der Kern dieser Lehre sagt »tu«, »mach«, »streng dich an«, »mach mehr«.

»Kontrolle« bezeichnet den Versuch, eine für die eigene Sicherheit als wichtig erachtete Struktur, durch das eigene Tun aufrechtzuerhalten. Sozusagen eine extra Struktur, die sich einer bereits vorhandenen Struktur überstülpt, um für zusätzlichen Halt zu sorgen. Im Alltag erleben wir diesen Halt dann als Vorsicht oder als dreimal um die Ecke denken. Als impulsives Verhalten, als Bewertung, Ignoranz, Aggression, Drama und Blablabla. Als Gleichgültigkeit, Coolness, Zynismus oder Schüchternheit. Ebenso zeigt sich die Illusion von Sicherheit in Gestalt von Süchten und Weltflucht, von Verspannungen, Depressionen, Taubheit, Schlafstörungen oder einem Terminkalender, der stets aus allen Nähten platzt.

Auf der körperlichen Ebene, tun, machen, halten und kontrollieren die allermeisten Menschen auf der muskulären Ebene. Schließlich arbeiten Muskeln gut und gerne. Genau damit stören wir regelmäßig die Grundstruktur, die wirklich zuverlässig Sicherheit und Halt vermittelt: Unsere Knochen. Menschenwesen versteinern ihre Muskeln zu einer Art Pseudo-Knochen und verlieren dadurch die Möglichkeit, sich frei zu bewegen und zu entspannen. Oder sie vernachlässigen die Kraft ihrer Muskeln und dadurch auch die Kraft ihrer Knochen. Sie bedrängen ihre Knochen mit den Muskeln so sehr, dass diese ganz hart werden und ihren frei schwingenden Raum verlieren. Ein enger Raum macht mögliche Erfahrungen unmöglich.

Ja, Tun ist wichtig, Aktivität ist wichtig und auch Absicht, Wille und Kontrolle haben ihre Berechtigung. Doch wenn wir wieder zu einer Ganzheit zurückfinden möchten, dann brauchen wir das Gegenstück des Tuns in unserem Repertoire. Ein Tun, das nicht tut. Ein Tun, das empfängt und geschehen lässt. Ein Tun, das schwer zu beschreiben ist, weil es auf Spüren beruht.

Es ist eine wunderschöne Erfahrung, einfach »nur« Knochen zu sein. Mit der Schwerkraft ganz leicht aufrecht zu stehen, Muskeln, Gewebe, Haut und Haar entspannt hängen zu lassen. Diese Einfachheit, die dürfen wir wieder entdecken. Entspannte Muskeln und weite Knochen erlauben eine Begegnung mit der lebendigen Bewegung der Energie, die wir entweder als »Angst« oder als »Lebenskraft« bezeichnen. Als Angst, wenn wir kontrollieren und eng werden, bei dem Versuch uns zu schützen. Als Lebenskraft, wenn wir Raum machen, uns berühren und überraschen lassen von dem, was ist.

Foto: Katrin Pauline Müller

Jeder Moment führt zu dem, was längst da ist

Zu meiner eigenen Freude und zur großen Verwunderung meiner engsten Freunde, habe ich diesen Sommer entdeckt, wie sozial ich bin, wie sehr ich mich dem Leben und seinen Wesen verbunden fühle. Mit dieser fast schon absurden Entdeckung habe ich einen Teil von antrainierter Selbstwahrnehmung entlarvt, die davon ausgeht, ich* sei unsozial, unverbunden und komisch. Eine Überzeugung die im Grunde nichts mit mir zu tun hat, die jedoch weitreichende Konsequenzen nach sich zieht: All das, was ich* extra tun muss, um mich als sozial, verbunden, richtig und sicher zu erfahren.

*Bitte beachte: Wenn ich an dieser Stelle von einem »ich« spreche, spreche ich auch von einem »du«, denn da geht es allen Menschen ähnlich. Unterm Strich haben wir alle dasselbe Training durchlaufen.

Ohne dieses ausführliche Training, dasmenschliche Aufmerksamkeit und Energie äußerst aggressiv bindet, würde die Kultur der extra Strukturen irgendwann in sich zusammenbrechen und Platz für etwas Neues machen. Was das sein wird, das weiß ich nicht. Doch ich weiß, dass Knochen nach dem körperlichen Sterben die Struktur des Körpers sind, die mit am längsten erhalten bleiben. Knochen erinnern sowohl an unsere Sterblichkeit, als auch an Zeitlosigkeit.

Nach diesem Sommer gibt es einiges zu tun. Ich weiß, dass ich dem Leben mehr Raum geben darf, wenn ich möchte, dass mein Alltag weit und lebendig ist. Dafür dürfen manche lieb gewonnene Strukturen gehen und beim Loslassen des Altbekannten, werde ich wahrscheinlich auch auf Angst, auf Nicht-Wissen und auf Unbekanntes treffen. Manchmal auch auf Schmerz. Ich weiß auch, dass ich mit meinen Muskeln regulieren kann, wie viel Raum das Nicht-Wissen einnehmen darf. Die Muskeln, die sich nie bewegen, können sich bewegen. Die Muskeln, die immer angespannt sind, dürfen weicher werden. Und die Muskeln, die immer weich sind, die dürfen sich wieder als kraftvoll erfahren. Dann spüre ich meine Knochen und den Boden unter den Füßen. Dann gibt es Raum in mir, in dem sich emotionale Energie bewegen kann. Vom Boden nach oben, Richtung Kopf und Himmel. Von oben nach unten zu meinen Fußsohlen, zum Boden. Mein Kopf ist still, ich rieche die Feuchtigkeit des Morgentaus.

(Veröffentlicht am 09.09.2023 auf Matristische Moderne via Steady)