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Vom Träumen und vom Weben

Ich träume vom Weben. Von Farben und von Tönen, aus denen die Grundlagen unserer Welt vor Urzeiten entstanden sind und immer weiter entstehen. Muster und Motive tauchen vor meinem inneren Auge auf. Wachsen wie Pflanzen.

Die Natur webt konstant. Im Moment webt sie den »Herbst« mit bunt gefärbten Blättern, mit Kühle, mit grünem Grau und dem klaren Rascheln von Trockenheit. Mit Feuchtigkeit in der Luft, die wir »Nebel« nennen. Sturmböen ziehen an meinem Haar und meine Ohren verstecken sich vor der aufräumenden Gründlichkeit des Windes. Bald trage ich draußen eine Mütze. Ich mag Mützen-Geborgenheit aus Kaschmir. Und ihr Versprechen, dass ich für Momente unsichtbar bin. Das fühlt sich ähnlich beruhigend an wie die Wärmflasche, die in kalten Nächten, unter meiner Bettdecke bei meinen Füßen liegt. Genau da, wo unsere verschmuste Katze am allerliebsten ist.

Diese Woche haben der Mond und die Sterne stark gewirkt. Der Himmel über Berlin war voll erleuchtet unter dem grünlichen Grau. Ich hab nach oben geschaut und mich wie unter Wasser gefühlt. Planeten bewegen sich in ihrer eigenen kosmischen Melodie. Formen blitzen kurz auf, neonstrahlend, darüber die gewohntere Struktur eines Blattes. Ich höre meine Schritte auf dem Boden. Braune Erde, bedeckt mit Laub und mit Gras. Ich spüre ihre tiefe Vibration, auch während ich meine Einkommenssteuer mache.

Alle Wesen weben. Die ganze Zeit. Und ich staune über dieses Spektakel. Es ist wie in einer Galerie, da bin ich voll und satt nach ein paar starken Werken. Gruppenausstellungen, mit extra viel Kunst, sind nichts für mich. Auch keine ewig langen Speisekarten. Ich merke immer deutlicher, wie ablenkbar ich bin. Das überrascht mich, denn ich hätte mich anders eingeordnet. Konzentrierter. Gleichzeitig bin ich sehr viel konzentrierter als gedacht, wenn ich mich wirklich konzentriere.

Ich webe Muster im Spannungsfeld von Abwechslung und Verdichtung. Leichtfüßig und schnell, mit großem Überblick und mit einer Offenheit für die allerkleinste Bewegung um mich herum. Ich könnte beinah jedes Blättchen auffangen. Sehr tief und sehr still. Bereitwillig öffnet sich ein gewaltig großer innerer Raum und ich lasse mich einsinken. Tauche völlig ab. Tauche wieder auf und orientiere mich blitzschnell.

Foto Katrin Pauline Müller

Um wach und präsent zu sein, brauche ich diese lebendigen Pole. Dann bin ich aufgespannt in meiner Kraft und das Weben ist selbstverständlich. Ich atme auf. Mein Brustkorb dehnt sich aus. Meine Wirbelsäule streckt sich nach oben und mein Po lässt sich noch bequemer in den Boden sinken. Meine Schultern räkeln sich ein wenig, meine Arme, Hände und die Finger vibrieren. Mit minimalstem Aufwand habe ich meine Position gewechselt.

Das französische Wort »Genius«, bezeichnet eine »erzeugende Kraft« oder auch einen »persönlichen Schutzgeist«. Mein Körper IST dieses Genie, ist diese Kraft, ist mein Schutz. Jeder Knochen, jeder Muskel, alles Gewebe und alle Organe sind am Start, bereit für den nächsten Atemzug. Bereit für den nächsten Schritt. Bereit für die nächste Farbe, den nächsten Ton und den darauffolgenden Augenblick.

Lange Zeit war ich davon überzeugt, dass ich aus unerklärlichen Gründen nicht in der Lage bin zu lernen. Als ob sich Lernfähigkeit an einer mathematischen Gleichung ableiten lässt, die von einem sadistischen Lehrer in den Raum gespuckt wird. Als ob Weben nur mit abgeschlossenem Zertifikat an der Wand erlaubt ist. Was für ein Quatsch!

Wir sind somatische Genies. Instinktbegabte Wesen. Kosmische Tiere.

Wir lernen zu tanzen, während wir tanzen. Wir lernen zu kochen, während wir kochen. Wir lernen uns zu konzentrieren, während wir uns konzentrieren. Wir lernen still zu sein, während wir still sind. Wir lernen zu lieben, während wir das tun, was wir lieben. Wir lernen glücklich zu sein, während wir glücklich sind. Wir lernen, während wir weben.

Vom Weben zu träumen ist der Anfang. Dann folgt die Aktion. Und erst dann steht echtes Essen auf dem Tisch, welches wirklich satt macht. Es duftet und die klappernden Gabeln erzählen Geschichten von Thymian und Parmesan. Wie Max Richters »Flowers of Herself« mit jedem Ton vom Laufen durch eine geschäftige Stadt erzählt.

Was möchtest du in dein Leben und in die Welt einweben? Sprudelnde Flüsse? Majestätische Bäume? Eine Liebesgeschichte? Reisen? Musik? Bücher? Frieden? Spiel? Tanz? Dankbarkeit? Du wählst die Farben.

Musik: Max Richter, Exiles, Flowers Of Herself

(Veröffentlicht am 23.10.2021 in Matristische Moderne via Steady)

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