Seit ich mich erinnern kann, war mein Verhältnis zu Kraft, Energie und Intensität ambivalent. Auf der einen Seite zieht es mich hin zu starken Erfahrungen. Ich mag es, wenn wirklich etwas passiert und ich mich voll und ganz präsent fühle. Auf der anderen Seite gibt es eine Scheu vor hoher Intensität und ich habe meine erprobten Wege, um Energie zu dämpfen. Als ob Kraft nicht ganz zu trauen ist, dass sie mich gut behandelt. Und als ob ich mir selbst misstraue, dass ich mit Kraft gute Wege finde. Konstruktive und gesunde Wege. Für mich und für meine Umgebung. Ich war lange unsicher, ob aus Kraft am Ende tatsächlich Schönheit entsteht.
Kraft kann zerstörerisch sein. Mit viel Kraft kann auch großer Schaden angerichtet werden. Der Umgang mit Kraft will geübt sein.
In unserer Welt wird so viel Quatsch mit Kraft gemacht. Es gibt wenige Menschen, die mit Kraft navigieren können. Wie wir alle, bin ich ohne echte Vorbilder zum nutzbringenden Umgang mit Kraft aufgewachsen. Ich habe Kraft erlebt, die eingesetzt wurde, um zu beherrschen, zu kontrollieren und um Angst zu verbreiten. Ja, es gibt die abgefuckten Leute, die es genießen, anderen Menschen Angst zu machen und ihnen Schmerz zuzufügen. Weil ihnen das ein Gefühl von »Kraft« gibt. Die meisten Menschen jedoch, die wissen einfach nicht, wie sie anders mit ihrer Kraft umgehen können, da sie selber auch keine Vorbilder hatten. Sie laufen einfach weiter den ausgetrampelten Pfad entlang, der sich schrecklich und schmerzhaft in sie eingegraben hat. In diesem Sinne verzichten sie auf echte Kraft. Es gibt Menschen, die geben ihre Kraft grundsätzlich und von vornherein ab. Sie weigern sich, Verantwortung für Kraft zu übernehmen. Damit wollen sie nichts zu tun haben. Oft erwarten sie dann, dass andere Menschen für sie stark sind, Entscheidungen treffen und Wege finden. Auch das ist ein Automatismus der »halt einfach so passiert«.
Jede*r von uns kann sich die Kraftfrage stellen. Es gibt immer Leute, die haben »zu wenig« Kraft, genauso wie es Menschen gibt, die immer »zu viel« Kraft haben. Kraft ist schön vielgestaltig. Sie zeigt sich in unterschiedlichsten Formen. Somatisch, sinnlich, emotional, in Ideen, im Denken, über Worte und Sprache, im Tun, als Wille, in Bewegung, in Ruhe und Stille. Intuition ist eine Kraft, ebenso wie Wahrnehmung.
Ich mag es, wenn Kraft biegsam, leicht und neugierig ist. Oder unendlich tief, gewaltig und sanft. Es gibt so viel zu entdecken. Ich mag es, wenn Kraft ohne Drama fließt. Easy. Lässig. Wie weiche Lava oder Pulverschnee. Durch mich durch, während einer Begegnung, bei einer Berührung. Mal hier mal da, wo es sich gut und stimmig anfühlt. Ich mag Kraft, die Schönes, Wärme, Humor, Ruhe, Schutz, Klarheit und Vollständigkeit hervorbringt. Kraft, die einfach da ist und alles da sein lässt. Offen.
Wofür verwendest du Kraft? Auf Sorgen Ängste, Ungeduld, Frust? In angespannten Muskeln? Für Vorwürfe und Groll? Oder schenkst du deine Kraft an Freude, Zufriedenheit, Vertrauen, Liebe, Schönheit, Weite und Zartheit?
Damit steht und fällt unser Leben und unsere Welt.
Es ist erschreckend einfach und braucht doch unendlich viel Hingabe, Disziplin, Ausdauer und Verbindlichkeit. Und diese Entscheidung, in was und wofür wir unsere Kraft geben wollen, die treffen wir täglich viele Male neu.
Wie und wo spürst du in dir, in deinem Körperempfinden, sowas wie Energie, Kraft, oder Bewegung? Gibt es Bereiche deines Körpers, die sich eng anfühlen, an denen Kraft »kratzt« oder gar nicht erst durchkommt? Schmerzen und Verspannungen sind dafür gute Wegweiser. Welche Bereiche sind offen, durchlässig, vibrierend? Spürst du Temperaturen, Leichtigkeit und Schwerkraft?
Wie nimmst du Emotionen in deinem Körper wahr? Wie fühlt sich »Angst« als körperliche Vibration an? Wie »Liebe«? Wie bewegst du dich mit diesen Emotionen im Alltag? Was »machst« du damit?
Wie spürst du deine Verbindung zu anderen Menschen, zu anderen Körpern und Kräften, die scheinbar außerhalb von dir sind? Wie spürst du den Herzschlag der Erde und den Herzschlag des Kosmos? Das Mysterium des Lebens ist energetisch.
Wenn wir uns trauen, in die unermessliche Kraft des Lebens einzutauchen, dann begegnen wir uns selbst und allem Lebendigen. Das ist erschreckend und gleichzeitig wunderschön. Hier spätestens, löst sich meine alte Ambivalenz auf und Kraft bewegt sich gebündelt in eine neue Richtung.
May the force be with you…und mögen alle Wesen glücklich sein.
(Veröffentlicht am 09.10.2021 in Matristische Moderne via Steady)