Traust du dich voll in allen deinen Körperempfindungen und Emotionen anzukommen, bis in die Füße reichend und damit auf der Erde landend? Dich dem Sog der Schwerkraft hingeben, zur Ruhe kommen, tief entspannen und echt loslassen, um das Wesen zu sein, das du wirklich bis? Kannst du dich dem Stoß, dem Puls der Erde öffnen und ihre Kraft annehmen, empfangen?
Meine Fragen sind weder rhetorisch noch kritisch gedacht, vielmehr ist es echtes Interesse, da mich diese Fragen durch den Alltag begleiten.
Ich lerne seit über 20 Jahren bewusster im Kontakt mit meinem Körper zu sein, seit 15 Jahren arbeite ich als Körpertherapeutin. Und nach wie vor finde ich es verblüffend, wie ungewohnt es ist, als Mensch in diesen Zeiten und in dieser Kultur, einfach auf dem Boden zu stehen und da zu sein. Den ganzen Körper präsent zu spüren, die Knochen aus- und aufzurichten, die formbare Körpermasse in ihrer eigenen Spannung hängen zu lassen. Je feiner mein Gespür wird, desto deutlicher werden die aberwitzigen Komplikationen, die wir im menschlichen System neben all seiner lässigen Selbstverständlichkeit abgespeichert haben. Glücklicherweise geht diese Klarheit inzwischen auch mit mehr Gelassenheit einher, die mich aus den Fesseln einer Trauma sensiblen Sichtweise entlässt. Ohne die tragische Komponente des Geschehens ignorieren zu müssen.
Die beschriebene Herausforderung, ein körperliches Wesen in einer immer unkörperlicheren Kultur zu sein, prägt nicht nur meinen Alltag, sondern den von allen Menschen, die deine und meine Wege kreuzen. Manchen Menschen ist dieser Umstand sehr bewusst, andere Menschen haben noch keine Ahnung, denn jeder Mensch steht an einem anderen Punkt. Es gibt Menschen, die komplett schlafwandelnd durch die Welt laufen und die damit ok sind, während andere Menschen ein Leben dieser Art als sinnentleert empfinden. Viele Menschen leiden unter ihrer Wahrnehmung, wohingegen manche Menschen große Kraft daraus schöpfen.
Ohne ein Gespür zu haben für die fortschreitende Ent-Körperlichung und damit Ent-Menschlichung, wird der persönliche Handlungsspielraum im Laufe eines Lebens irgendwann zu klein. Dann bleiben Wünsche und Träume häufig stecken in veralteten Bahnen, in denen wir uns bewegen seit wir sehr kleine Wesen sind. Angewohnheiten, die wir lernen mussten, die hilfreich waren oder für unsere Sicherheit gesorgt haben. Sehr viele Menschen leben in einer Welt, deren Grundton sich lange nicht mehr verändert hat. Von frischen Melodien ganz zu schweigen. Eine Welt, die scheinbar keinen Ausgang hat.
Doch es gibt viele Menschen, die können und wollen nicht ignorieren, dass ihr inneres Empfinden quietscht und ächzt und Fragen stellt. Sie wollen wissen, was für ein Spiel wir hier spielen. Sie möchten erfahren, wer sie wirklich sind. Sie wollen frei und verbunden sein, nach anderen, noch unbekannten, visionären, rebellischen, romantischen oder unschuldigen Parametern leben. Sie wollen selbst wählen, welcher Ton ihr Leben prägt und sie suchen nach einem Ausgang.
Ein praxistauglicher Ansatz
Die Suche nach sich selbst und nach der eigenen Kraft ist eine sehr individuelle – und doch können wir ihr alle folgen. Der für mich praktikabelste Weg, ist der über den eigenen Körper. Schließlich erzählt jedes Körperwesen ständig, was es beschäftigt, wo es festhängt und wonach es sich sehnt. Jede Spannung, jeder Schmerz, jede Leere erzählt eine Geschichte und lädt zu einer Entdeckungsreise ein. Jede Emotion legt die Fährte zu einem neuartigen Umgang mit den eigenen Energien und den Wünschen des Herzens. An sich brauchen wir nur zuzuhören und mutig auf die Weisheit des Körpers zu vertrauen, auch wenn das oft leichter gesagt ist als getan.
Zuhören ist die Fähigkeit offen, ruhig und geduldig zu sein, sowie die eigene Haltung nicht sooo wichtig zu nehmen. Alte Strukturen, überholtes Wissen und vermeintliche Kontrolle loszulassen, öffnet einen Raum zu neuen Erlebniswelten und für das Vertrauen. Was uns in diesen Räumen begegnet, bleibt solange ein Geheimnis, bis wir es erfahren.
Auch der unermesslich große Körper der Erde spricht beständig zu uns, sie lädt uns ein, dem zu lauschen, was sie durch ein Blatt, einen Windstoß, das Wasser oder ein Lebewesen erzählt. Sie wirkt aus diesem weiten lebendigen Raum, nach dem auch wir Menschenwesen uns sehnen, ein Raum, in dem alles so sein darf, wie es ist.
Mutter Erde verteilt ihre Geschenke großzügig und sie lädt jedes ihrer Kinder dazu ein, es ihr gleichzutun. Schließlich empfängt sie auch gerne die verschiedenartigen Energien und Impulse der Lebewesen, die auf und in ihrem Körper zuhause sind. Sie ist es, die uns ruft auf dem Boden zu stehen und präsent da zu sein. Unsere Fußsohlen und den ganzen Körper zu spüren, die Knochen aus- und aufzurichten, die formbare Körpermasse mit der Schwerkraft zu entspannen. Wirklich in uns selbst und damit bei ihr anzukommen.
Und ich frage mich, ob wir dann diese seltsam eindimensionale 1,5 Grad Debatte hinter uns lassen und echte neue Lösungen für ein zukünftiges Zusammenleben auf dieser wunderschönen Erde finden können.
(Veröffentlicht am 18.06.2023 auf Matristische Moderne via Steady)