Wenn du dich mal umschaust und dich selbst ehrlich beobachtest, dann merkst du schnell, dass alle Menschen mehr oder weniger rechthaberisch sind. Wir haben unterschiedliche Styles der Rechthaberei, doch am Ende wollen wir immer lieber diejenigen sein, die es »wissen«, die »richtig« liegen und die »Recht« haben. Manche Menschen verdeutlichen das mit Worten, manche Menschen lassen es dich erhaben spüren und manche Menschen liefern dir Beweise. Manche Menschen sind vorwurfsvoll, andere sind aggressiv. Oft geht es dabei um etwas anderes, doch im Null Komma Nix geht es dann doch darum, Recht zu behalten.
Wir haben unterschiedliche Meinungen und Sichtweisen auf uns selbst, auf andere Menschen, auf das Leben, auf Arbeit, auf Liebe, auf Geld, auf unsere Körper und auf Emotionen. Da wir sind alle gleichermaßen egozentrisch und eine andere Haltung empfinden wir leicht als Bedrohung, auch wenn wir das meistens überhaupt nicht realisieren. Wir merken eher, dass wir genervt oder gestresst sind.
Warum bestehen wir so stur und starr auf unseren persönlichen Perspektiven?Warum ist es sooo wichtig Recht zu haben?
Ich denke, Rechthaberei ist das unsichtbare Schutzschild, welches uns vor unserer Angst und vor Unbekanntem, vor Chaos, vor dem Sterben und vor den ganzen Unberechenbarkeiten des Lebens »schützen« soll. Wir sind rechthaberisch, um ein Gefühl von scheinbarer Sicherheit aufrecht zu erhalten. Ob das wirklich »sicher« ist, wage ich zu bezweifeln.
Kennst du Bäume, Tiere und Gewässer, die darauf bestehen, im Recht zu sein? Folgt die Gemeinschaft des Lebens etwa anderen »Regeln« als den menschengemachten? Und woher nimmt die natürliche Welt ihr Vertrauen?
Was sagt dein Körperempfinden zum Recht haben? Wie fühlt es sich körperlich an, »falsch« zu liegen, dich zu irren und im Unrecht zu sein? Forsche mal im Alltag, welche Empfindungen du spürst, wenn du mit deiner Körperwahrnehmung zu den Erfahrungen von Sicherheit und Unbekanntem spielst.
Schau, ob du einfach verschiedene Erfahrungen von »Energie« im Körper spürst. Das können vielfältige Spannungszustände, Kribbeln, Vibrieren oder Temperaturänderungen sein. Spür, ob mehr Energie in der unbewiesenen Sicherheit von angespannten Muskeln, angehaltenem Atem und einem festgehaltenen Kiefer steckt, oder ob du mehr Energie im bewusst tiefen Atmen und im Loslassen an den Moment wahrnimmst.
Bestätigt dein Körperempfinden die Erwartung, dass du Unsicherheit um jeden Preis vermeiden musst? Brauchst du das starre Beharren auf Altbekanntem, um dich sicher zu fühlen? Oder brauchst du viel eher Übung im Umgang mit den hohen Energiezuständen, die jenseits von Recht und Ordnung liegen, wenn du dich wirklich sicher fühlen willst? Unsere Körper lieben Energie! Und alles, was sich gut anfühlt, stufen sie als sicher ein.
»Recht« haben ist auch ein kollektives Phänomen, denn die menschlichen Zivilisationen folgen einem sehr klar festgelegten System aus Verhaltensnormen. Dieses System wird mit allen Mitteln verteidigt, denn wer weiß was passiert, wenn es in Unordnung gerät!
Das herrschende System des globalen Kapitalismus wird, im Großen wie im Kleinen, um jeden Preis verteidigt. Diese Rechthaberei nimmt den Tod der Vielfalt des Lebens und den Tod der Welt in Kauf. Was ist so tragisch, »Fehler« zu korrigieren, die so offensichtlich sind? Was würde passieren, wenn die Menschheit endlich einen radikalen Kurswechsel vornimmt, der mit dem Leben kooperiert, anstatt es beherrschen zu wollen?
Dieser Kurswechsel wird NICHT von »dem System« kommen, denn »das System« wird bis zum Ende an der Ordnung festhalten, mit der es irgendwann eingeführt wurde. Ein Kurswechsel passiert viel mehr von innen heraus, in den Individuen eines Systems. Wenn einzelne Menschen die Regeln NICHT mehr befolgen und das Spiel von Streit und Krieg NICHT mehr mitspielen, dann verändern sich diese Menschen zwangsläufig. Und wenn Menschen ihre Werte ändern, dann ändert sich die ganze Ordnung. Wir scheinen vergessen zu haben, dass Menschen dieses System angefangen haben und dass sie es genauso wieder ändern und beenden können.
Ja, das ist ein großer Schritt, denn es bedeutet für dich und für mich, dass wir Gewohnheiten ändern müssen und dass wir uns trauen müssen, NICHT länger Recht zu haben und vor allem NICHT zu wissen. Es bedeutet auch, dass wir uns für eine gewisse Zeit vielleicht NICHT mehr als zugehörig empfinden, wenn wir es plötzlich anders machen. Das alles fühlt sich für unser Selbst erstmal bedrohlich und wie ein kleiner Tod an. Doch keine Sorge, wir verlieren uns dabei NICHT, sondern wir finden wieder echte Individualität und Diversität und darin liegt viel Kraft.
Wenn ich wirklich bei mir bin, dann bin ich still und der natürlichen Welt nah. Von da aus kann ich vertrauen und ich habe den Mut, mich vom Leben überraschen zu lassen. Von da aus passiert Evolution, wie die dann aussieht, werde ich dann sehen. Mögen alle Wesen glücklich sein.
(Veröffentlicht am 07.08.2021 in Matristische Moderne via Steady)