Es wird nicht wieder normal.
Und das ist gut so. Denn, was heiß das schon? Ich weiß wie es ist, morgens um 6:30 Uhr aufzustehen, weil meine Tochter um kurz vor 8:00 Uhr in der Schule sein muss. Da ist sie dann bis 15 Uhr und um spätestens 16 Uhr ist sie wieder zuhause. In dieser kinderfreien Zeit arbeite ich. Früher musste ich dafür draußen in der Praxis sein, seit einer ganzen Weile, arbeite ich vorallem von zuhause. Es hat sich immer wichtig angefühlt, dass ich meine Ruhe habe, während ich arbeite.
Nun ist meine Tochter seit einer Weile Teenagerin und seit über einem Jahr im digitalen Fernunterricht. Sie kann deutlich länger schlafen und hat noch dazu an drei Tagen erst zur dritten Stunde Schule. Für eine Teenagerin ist das viel wert. Seitdem der morgendliche Fertigmach-Stress weggefallen ist, stehe ich gerne um 6:30 Uhr auf und widme mich meiner Yoga, Meditations – und Mantrapraxis, während meine Tochter noch einen Moment döst. Unsere Katze checkt währenddessen einmal die Lage auf dem Balkon und chillt danach auf meinem Bett. Außer wenn ich zu laut atme. Dann verlässt sie den Raum und beobachtet mich aus dem Türspalt heraus.
Ab 7:00 Uhr höre ich meine Tochter im Zimmer nebenan und ich höre vor allem die Snoozefunktion ihres Weckers und die Anfangstöne von Billie Eilishs No Time To Die, wenn der zweite Wecker auf ihrem Mobiltelefon angeht. Ich dachte lange, dass ist ein Intro zu einem Gruftifilm, doch nein, es ist von der großen Billie.
Um kurz vor 8:00 Uhr treffen wir uns in der Küche, ich koche Kaffee und Tee und wir machen Frühstück. Dann verschwindet meine Tochter in ihrem Zimmer vor den Rechner und ich sitze in der Küche in der Morgensonne und trinke Kaffee. Oft mit der Katze auf dem Schoß. So hören wir den Vögeln im Gebüsch vor dem Fenster zu.
Die nächsten Stunden sitze ich in meinem Zimmer vor dem Rechner und arbeite. Ich höre immer wieder meine Tochter und manchmal höre ich auch ihre Freundin am Telefon und wie sie ihre Augaben miteinander besprechen und gemeinsam erledigen. Zwischendrin höre ich Lehrer*innen und andere Schüler*innen, die sich bei einer Videokonferenz zu einem Thema austauschen. Wenn ich zuviele Stimmen von drüben höre, werde ich unruhig und irgendwann gereizt. Dann wandere ich in die Küche oder ich beschwere mich. Dass ich Ruhe während dem Arbeiten brauche, ist geblieben. Auch dann wenn meine Tochter kein Kind mehr ist und nicht mehr morgens aus dem Haus geht.
Mittags haben wir beide Hunger. Ich stehe immer wieder mit einem Teller mit Essen vor ihrer Zimmertüre und warte darauf, dass sie mir den abnimmt und dann wieder zurück zu ihrer Konferenz huscht. Ich finde es komisch, dass scheinbar keine Zeit für Essenspause im online Schulplan vorgesehen sind. Vielleicht liegt das jedoch auch an der Art, wie meine Tochter ihre Aufgaben abarbeitet soll. Und dieses Abarbeiten ist wirklich irritierend. Wäre der Fernunterricht nicht DIE Chance, schulisches Lernen endlich zu modernisieren und wirklich relevante Themen und Bereiche zu unterrichten? Dieses feshalten am Altbekannten nervt mich und macht mir Sorgen.
Falls ich bis dahin noch nicht draußen war, ist spätestens um 15 Uhr höchste Zeit dafür. Meine Beine kribbeln vom langen Sitzen und ich möchte mich sofort bewegen.
Meistens dauert es noch ein bisschen, bis ich meine Tochter vom Computer weg und aus ihrem Zimmer raus bekomme. Der Klick von Teams zu Netflix ist ein Kinderspiel. Oder sie liegt im Bett und ist erschöpft vom Vormittag. Draußen traben wir dann durch die frische Luft und suchen erst einen der Parks, Grünflächen oder Friedhöfe auf und danach gehen wir bei Denns oder Lidl einkaufen. In den letzten kalten Monaten sind wir dann auch schon wieder nach Hause. Jetzt werden die Eisrunden zurückkommen. Und vielleicht auch nochmal ein Runde um dem Block vor dem Schlafengehen. Dann wenn es dunkel und ruhig wird.
Bedürfnisse klären unsere Sicht
Du siehst, wir sind schon ziemlich routiniert nach diesem einen Jahr im Lockdown. Und ja, Routinen und Bekanntheit sind wichtig, weil sie ein Gefühl von Sicherheit und Struktur vermitteln. Doch diese Art von Normalität meine ich NICHT.
Unser Alltag ist von so vielen Routinen durchzogen, die totaler Quatsch sind. Und der politische Lockdown zwingt uns zumindest, uns auch von ein paar dieser Routinen zu verabschieden. Diese Verluste zeigen uns, wieviel Umdenken und Veränderung in so vielen Bereichen ansteht. Die Läden sind geschlossen und die Wirtschaft kollabiert. Und wir wollen, dass die Läden endlich wieder öffnen und sich alles normalisiert. Wir wollen endlich wieder Menschen treffen, viele Menschen. So oft wir möchten und so viel wir möchten. Und wir möchten uns frei bewegen. Von A nach B und mit unserer Meinung und Haltung.
Ich finde es spannend, diese Bedürfnisse und Sehnsüchte genauer zu betrachten. Denn einerseits sehe ich Sicherheitsdürfnisse, die denken zu verhungern, wenn sie nicht ständig kaufen können. Andererseits sehe ich das menschliche Bedürfnis nach Verbundenheit, Berührung, Körperkontakt, Austausch und nach Freiheit. Ich sehe konditionierte Bedürfnisse, die kein wirkliches Bedürfnis sind. Und ich sehe natürliche Bedürfnisse. Und alle verschiedenen Aspekte gehen unscharf ineinander über, bis wir den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen.
Eine wichtige Pandemie-Strategie könnte sein, erstmal innezuhalten und für Klarheit und Überblick zu sorgen. Und mit innehalten meine ich NICHT, dass alles geschlossen werden soll. Nein, ich meine innehalten und wahrnehmen im großen Stil. Wir sind endgültig mit dem Rücken zur Wand und wir können es uns nicht länger erlauben im wilden Aktionismus loszuschießen, ohne klar zu sehen. Wir müssen jetzt definieren, in was für Gesellschaftsstrukturen wir leben möchten. Und bei dieser Klarheitsfindung, stellt sich die dringliche Frage, welche unserer Routinen und Bedürfnisse gesund und lebensförderlich sind und welche Routinen ungesund und veraltet sind. Was ist normal?
Es ist ja nicht so, als ob wir das nicht wissen würden. Wir wissen, was sich ändern muss. Du und ich, wir wissen, was uns nicht gut tut und was ungesund für uns ist. Genauso wissen wir, was zu unserem Wohlbefinden beiträgt. Wir wissen das für unsere eigene individuelle Alltagsrealität, genauso wie wir es bei den Themen Kapitalismus, Konsum, Meinungsfreiheit, Schulreformen, Arbeit, Geld, Zeit, Gesundheit oder Artenvielfalt und Klima wissen. Trotz dieses Wissens, halten wir sehenden Auges an extrem ungesunden Angewohnheiten fest. Das ist ein Verhalten, das als Sucht bezeichnet wird.
Bewusstseinsveränderung ohne Drogen
Wie wäre es, wenn wir unser Wissen und Bewusstsein erweitern und all diese Fragen auch körperlich als Erfahrung spüren?
Wie spürst du jetzt in diesem Moment deinen Körper? Dieses lebendige Wesen, das durch Viren krank werden und sterben kann? Dieses körperliche Wesen, das genauso wie es Krankheiten übertragen kann, auch Wärme und Liebe und Berührung gibt. Wir sehnen uns nach körperlichem Kontakt, nach Berührung, nach Empfindungen und nach Sinnlichkeit. Ohne dieses körperliche Wissen gehen wir innerlich ein. Und ohne dieses körperliche Wissen, haben wir keinen vollständigen Zugang zu Überblick, Klarheit und Intuition. Nur in dieser Ganzheit wird aus Wissen Weisheit.
Ich spüre, wie es sich körperlich anfühlt, morgens um 6:30 Uhr austehen zu müssen, weil das Kind um kurz vor 8:00 Uhr körperlich anwesend in der Schule sein muss. Und ich registriere die körperliche Erfahrung die ich mache, wenn ich um 6:30 Uhr aufstehe, um mich mit Yoga um mein körperliches und geistiges Wohlbefinden zu kümmern. Ich spüre sehr klar, welche Erfahrung sich gesund und kraftvoll und ja, natürlich anfühlt.
Und so wird aus der Frage nach normal und bekannt viel mehr die Frage nach gesund und natürlich. Wir könnten lernen viel öfter zu fragen, »Wie fühlt es sich gerade an?« oder »Wie spüre ich mich in diesem Moment?«
Es liegt so viel Heilungspotential in dieser globalen Unsicherheit und Ungewissheit. Können wir radikal sein und uns endlich dem Unbekannte, unseren Emotionen und unserem Körperwissen anvertrauen? Bitte warte nicht auf einen Gesetzesentwurf oder eine Petition. Das wird es nicht geben, denn unsere Politik ist unkörperlich. Für mich ist klar, dass du und ich diese Art von Bewusstseinserweiterung selbst praktisch umsetzen werden müssen. Es geht nicht von außen. Und das ist eine große Veränderung. Doch nur so können wir neue Strukturen schaffen, die aus uns heraus entstehen und dadurch in Übereinstimmung mit unserer natürlichenWeisheit sind.
(Veröffentlicht am 31.03.2021 in Matristische Moderne via Steady)