Hier findest du Texte aus meinem Newsletter #MatristischeModerne

SINNE 2 #Sehen

Im zweiten Teil meiner Gedanken zu den menschlichen Sinnesorganen geht es um den Sehsinn – und somit um die Magie des menschlichen Auges.

Die Augen bzw. das visuelle System sind neben dem akustisch-auditiven System der wichtigste Fernsinn eines Menschen. Wobei Fernsinn bedeutet, dass das Bewusstsein nicht durch die Augen sieht. Vielmehr nehmen die Augen optische Reize, sprich Informationen aus der Umwelt auf und leiten diese ans Gehirn weiter. Eigentlich schauen wir mit dem Gehirn.

Genauer gesagt ermöglichen zahlreiche, fein aufeinander abgestimmte und komplex ineinander greifende Strukturen im Auge, die Aufnahme von elektromagnetischer Strahlung (aka Licht, aka Energie). Diese wird über den Sehnerv (der aus über 1 Million Nervenfasern besteht) als neuronales Signal zum Sehzentrum im Gehirn weitergeleitet. Dort werden die Signale verarbeitet und interpretiert, was letzten Endes dazu führt, dass wir stehenbleiben, wenn die Farbe Rot an der Ampel aufleuchtet.

Im Alltag sind die Augen das Sinnesorgan, das am meisten benutzt wird. Das bedeutet einerseits, dass unsere Augen oft überlastet sind, andererseits erzählt dieser Fokus auf die Augen davon, dass wir mit den anderen Sinnen häufig weniger vertraut sind und uns weniger auf sie verlassen.

Der Film »Perfect Sense« mit Eva Green und Ewan McGregor erzählt von einer Pandemie, die den Menschen nach und nach die einzelnen Sinne nimmt. Die Augen sind der letzte Sinn, der im Film verloren geht. Danach ist alles schwarz, der Film ist vorbei. Zu Sehen bedeutet Sicherheit.

Die Welt träumen

Unser Verstand und unsere Augen haben die magische Fähigkeit, sich Bilder vorzustellen und ein Abbild davon zu erschaffen. Sprich, meine Imagination lässt das Essen, das Tattoo, das Strickstück, die Wohnung, etc. am Ende so aussehen, wie ich mir das innerlich ausgemalt habe. Und all das bei geschlossenen Augen. Häufig merke ich bei der Umsetzung meines geträumten Bildes, dass sich das Bild noch ergänzen lässt, dass ich eventuell nicht alles gesehen habe, was möglich ist. Das ist für viele Menschen Anlass zu Frust, Ärger oder Verzweiflung, obwohl es eigentlich die Entdeckung von etwas Unvorhergesehenem ist, eine Überraschung und somit etwas Neues. Etwas, das ich mir bisher nicht vorstellen konnte, weil ich es vielleicht noch nirgendwo gesehen habe.

Womit wir bei einer weiteren wichtigen Aufgabe der Augen sind – der Wiedererkennung von visuellen Objekten. In der westlichen Hemisphäre haben wir gelernt, dass die rote Ampel »Stop« bedeutet. Sprich, alles was wir sehen wird blitzschnell interpretiert, eingeordnet und mit Erinnerungen abgeglichen. Finden wir das Bild in keiner unserer Erinnerungen, so treffen wir wieder auf ein Moment, in dem wir skeptisch oder neugierig auf etwas noch Unbekanntes reagieren können.

Sonne
Zeichnung Sonne: Katrin Pauline Müller

Mit dem Körper sehen

Wie ich auf ein Bild reagiere, hat nicht nur mit meinem Gehirn, mit meinen Erinnerungen oder meiner Offenheit zu tun, sondern auch damit, wie nah ich das an mich ranlasse, was ich sehe. Ich sehe täglich das schöne Gesicht meiner Tochter. Ihre neugierigen und lebendigen Augen, die erzählen, wie mitfühlend, wie scheu und wie lustig sie ist. Und doch braucht es manchmal einen tiefen bewussten Atemzug auf meiner Seite, so dass ich präsent bin und sie wirklich spüre. Es berührt mich zu sehen, wie sich hinter ihrem Mitgefühl das Wissen verbirgt, traurig zu sein. Und hinter ihrer Schüchternheit sehe ich, dass sie Angst kennt. Ich sehe große innere Stärke und die Entscheidung, sich ihren Humor, ihre Wärme, Verspieltheit und Sanftheit zu bewahren. Und dass sie sich selber immer klarer genau so sehen kann.

All das sehe ich nicht nur mit den Augen und nicht nur mit dem Gehirn. Ich spüre es im Herzen, auf der Haut, im Bauch und in den Knochen. Ich höre und ich rieche es. Ich spüre, wie emotionale Energie meine Zellen abtastet und mich über das informiert, was ich sehe. Meine Augen werden zu einer Pforte, die zu großer sensorischer Offenheit führt, wenn ich mich darauf einlasse, die Augen und das Gehirn mit dem restlichen Körper zu verbinden.

Dann betrete ich eine Welt, die aus so viel mehr besteht als mathematische Gleichungen und logische Ketten. Eine Welt, in der alle Lebewesen leuchten und vibrieren, so hell und so schnell, dass ich die Augen schließen muss. Um zu merken, dass die Lichtfäden selbst dann noch da sind. Noch heller, noch schneller als mein physisches Auge in der Lage ist zu schauen.

Wir leben in einer Welt voller Wunder, die nur darauf wartet von uns gesehen zu werden.

(Veröffentlicht am 15.12.2024 auf Matristische Moderne via Steady)