Diese Woche ist es in der natürlichen Welt deutlich kühler und dunkler geworden. Der Wind schiebt eine neue Jahreszeit dazwischen, ein anderes Tempo breitet sich aus und meine Alltagsabläufe und Rhythmen gleichen sich daran an.
In dieser Übergangszeit vom Sommer zum Herbst nehme ich mir Zeit, die Früchte und die Ernte dessen anzuschauen, was in diesem Jahr in meinem Leben gewachsen ist. Passend dazu wird nächste Woche, zwischen dem 17. und dem 19. September, auch am Himmel die Erntemondin zu sehen sein.
Eine der Pflanzen, die für mich dieses Jahr deutlich sichtbar und spürbar gewachsen ist, ist die Möglichkeit, bei mir zu bleiben. No matter what.
»Bei mir sein« bedeutet für mich, meinen Körper, die Muskeln, die Knochen, die Haut, die Nerven, alle Empfindungen und Emotionen zu spüren. Es bedeutet, dass ich mir über mein Denken und mein Verhalten bewusst bin, dass ich meiner Wahrnehmung vertraue. Und dass ich immer wieder aufs Neue schaue, ob das alles noch in Einklang steht mit dem, was ich verkörpern und erfahren möchte.
Indem ich meinen Körper – der meine Aufmerksamkeit und meine Energie ist – wieder ganz klar zu mir zurückhole, übernehme ich Verantwortung für meine Erfahrungen. Ich entscheide, wem und an was ich mein Leben widme.
Foto: Katrin Pauline Müller, 2024
Ich übe bei mir zu sein
Ganz gleich, ob ein anderer Mensch Stress hat und Stress macht.
Ganz gleich, ob ein anderer Mensch ungefiltert Aggressionen auslebt, weil er oder sie Stress aka Angst oder Schmerz hat.
Ganz gleich, ob ein anderer Mensch mir die Verantwortung für seine/ ihre Emotionen und daran geknüpftes Verhalten einreden will.
Ganz gleich, welche Emotion es ist wegen der ein anderer Mensch ausflippt, angreift, beschuldigt oder wegläuft. Ganz gleich, was der Grund und die Story ist, warum der andere Mensch das tut, was er macht oder nicht macht.
Ich bleibe bei mir.
Und das alles macht etwas mit mir. Das alles berührt mich sehr. Doch nur weil ich es spüre, bedeutet das nicht automatisch, dass ich die Verantwortung trage für das, was in dem anderen Menschen vorgeht. Dann bin ich viel weniger involviert in die ganzen Dramen um mich herum. Dann muss ich nicht länger meine Aufmerksamkeit und Energie auf etwas richten, worauf ich eh keinen Einfluss habe.
Ganz gleich, was ist – ich bleibe bei mir und ich spüre, höre, sehe, rieche und fühle was IST. Ich spüre die Energien, die wir »Emotionen« nennen und die sich im menschlichen Körper bewegen wie Wellen. Hoch- und runter, hin- und her. Ich spüre die Empfindungen, die in den Wellen aufleuchten, spüre, wie die Knochen, die Muskeln, die Haut auf ihre Bewegung reagiert. Ich spüre mein Gewicht, die Füße auf der Erde.
Und wenn ich all das mal wieder verliere, mich im Außen und im Gegenüber verliere, dann nehme ich drei tiefe Atemzüge und ich kehre zurück zu mir. Dann ist Innen und Außen wieder klarer und der Unterschied ist viel weniger relevant. Dann spüre ich mich und ich spüre dich, und mein Verantwortungsbewusstsein weiß wo es zuhause ist.
Wofür das alles?
Obwohl ich meine Aufmerksamkeit so ganz nah bei mir halte, nehme ich mich selber viel weniger wichtig. Das gefällt mir, es macht mich leichter und geschmeidiger, während meine Wurzeln immer tiefer wachsen. In diesem Spannungsfeld tut sich eine innere Weite auf, mit der ich den Raum in mir und um mich herum sehr fein erspüre. Ich »weiß« wer welches Drama macht, aus Gewohnheit und um Aufmerksamkeit und Energie zu bekommen. Und ich »weiß« wer wirklich Interesse hat an diesem alten Spiel, die eigene Kraft zu kultivieren, Verantwortung zu übernehmen und so das Leben zu bereichern und zu genießen. Ich »weiß« indem ich spüre, höre, rieche, sehe und fühle. Vielleicht ist das der einzige Job, mit dem ich mich dem Leben wirklich zur Verfügung stellen kann.
Und ich übe mich darin, weil ich mir Begegnungen mit der Liebe wünsche. Liebe ist die größte Kraft. Liebe umfasst alles. Liebe bedeutet die volle Verantwortung zu übernehmen. No matter what. Begegnungen mit der Liebe sind krass. Nur Liebe kann das, was wir »Gewalt« nennen, in Kraft, in Energie, in Heilung und in Befreiung zurückverwandeln. Weil Liebe das alles ist.
Ich habe Angst vor der Erfahrung, die ich unter dem Begriff »Liebe« abgespeichert habe. In meiner internen Verknüpfung ist menschliche Liebe stressig, beängstigend, brutal, übergriffig, unterdrückend, rechthaberisch, unaufmerksam, beschämend und definitiv schmerzhaft.
Und ja, die Liebe von Menschen ist oft durchtränkt von genau diesen Verdrehungen, mit denen sie verletzt worden ist. Das menschliche Herz sehnt sich nach Entwirrung, Befreiung und Heilung. Ganze Ahnenlinien erzählen von Jahrhunderte langer Qual. Und schlagen dabei wild um sich, bis die ganze Angst wieder aus der Liebe gewaschen ist, mit der sie gewaltsam eingefärbt wurde. Welle für Welle.
Und doch hat mich bisher nichts so tief erschreckt, wie die lebendigen Kräfte der Erde und des Kosmos zu spüren. Die Liebe dieser Wesen hat mich stärker berührt als alles, was Menschen sich gegenseitig antun können. Die Liebe der Erde und die Liebe des Kosmos sind so gewaltig schön und leuchtend, so unerbittlich vibrierend voller Leben, dass dir übel werden kann. Ohne mit der Wimper zu zucken und mit bester Absicht, werfen sie dich in den Raum der Liebe, der nichts unberührt lässt. Und dieser Raum liegt in mir.
Diesen Raum möchte ich betreten, in diesem Raum möchte ich mich aufhalten und mich entspannen können. Und ich betrete diesen Raum für meine Tochter. Für meinen Vater und für meine Mutter. Für meine Schwestern und meine Brüder. Für alle Lebewesen, deren Herz sich danach sehnt, dass Kraft wieder etwas heiliges ist.
(Veröffentlicht am 15.09.2024 auf Matristische Moderne via Steady)