ich spüre eine Veränderung in mir und in der Welt. Das Leben, wie wir es kennen, ändert die Richtung und es ruft zu einer neuen Art des Zusammenlebens auf…
Care, das sich Kümmern, das Sorgen und Pflegen, ist eines der Grundthemen unter sozialen Wesen. Es ist die Basis des Zusammenlebens als Menschheit und als Familie des Lebens auf der Erde.
Die meisten Erwachsenen, die ich kenne, die können sich sehr gut um sich selbst kümmern. Vielleicht zu gut. Denn, häufig offenbart sich beim genaueren Zuhören hinter der eigenen Kompetenz eine tiefe Einsamkeit, Erschöpfung und vor allem Angst. Ein, ich mache es grundsätzlich lieber selbst. Ein, ich vertraue nicht darauf, dass jemand anderes es so macht, wie ich es will und brauche. Ein, nicht um Hilfe fragen können. Leider bestätigt dieser verständliche Wunsch nach Unabhängigkeit, jedoch immer wieder aufs neue die alte Einsamkeit, die Erschöpfung und die Angst.
Anstatt die eigenen Wünsche, Bedürfnisse, Ängste und Erwartungen jemals laut zu formulieren, wird diese forcierte Unabhängigkeit manchmal begleitet durch eine deutliche Beschwerde an die »Anderen«, die nicht genug mithelfen, sich nie genug kümmern. Um erneut die Grundannahme zu bestätigen, alleine zu sein, es alleine machen zu müssen – für jedes Säugetier eine zutiefst beängstigende Erfahrung.
Es gibt Menschen, die sind der festen Überzeugung, dass jemand anderes sich um sie kümmern muss. Weil sie es selber nicht können, es nicht schaffen. Die Welt ist zu groß, zu herausfordern. Sie erfahren sich als zu klein, als zu schwach, als zu hilflos. Hier ist es eher die eigene Autonomie, die eigene Verantwortung, die Angst macht, die vermieden wird. Und auch wenn das selten so gesehen wird – indem sie andere Menschen dazu bringen, sich um sie zu kümmern, zeigen auch sie eine große Fähigkeit für sich zu sorgen.
Manche Menschen, die kümmern sich bloß deshalb um andere Menschen, weil sie von ihrem Tun einen Profit für sich erwarten. Tritt dieser Profit nicht ein, so können sie äußerst ärgerlich werden und über Nacht den Kontakt abbrechen. Oft finden sie für eine Zeitlang ein passendes Gegenstück in den Menschen, die sich ohne Unterlass um alles und um jeden kümmern, außer um sich selbst. Wobei auch diese Art der Fürsorge meistens nicht ganz so uneigennützig ist, wie es vielleicht auf den ersten Blick wirkt. Menschen, die wie Junkies ständig über die eigenen Grenzen gehen, die wollen sich über ihr Tun als gut und als wertvoll erfahren, weil sie sich selbst als minderwertig empfinden. Sie geben aus einem Mangel und sie erhoffen sich durch ihre Aufopferung eine Wertschätzung im Außen, die sie im Inneren vermissen.
Das lustige an diesen Überlegungen ist, dass sich die guten Menschen ebenso gut kümmern können, wie die unabhängigen Menschen, die nichts und niemanden zu brauchen scheinen. Die narzisstischen Menschen, die können sich ebenso gut um sich selbst kümmern wie die, die sich als Opfer einstufen. Am Ende bleibt jedoch allen das verwehrt, was sie sich am allermeisten wünschen: Die Erfahrung, eingebettet zu sein in das Kraftfeld des Lebens, das Sicherheit, Support, Vertrauen und Wertschätzung ermöglicht.
Stell dir ein paar verschiedene Mischungen aus den bisher beschrieben Spielarten der Fürsorge vor. Spielarten, die sich bestimmt noch um einige weitere Möglichkeiten ergänzen lassen… Und stell dir vor, wie die einzigartige Mischung eines Menschen auf die einzigartige Mischung eines anderen Menschen trifft, wie sich daraus Freundschaften, Beziehungen, Familien und Gemeinschaften bilden.
Ein unendliches Spiel
Und was, wenn das alles gar kein Problem ist? Was, wenn wir uns auf der Erde in einem großen Übungsraum befinden, in dem wir mit Hilfe der Lebewesen, auf die wir treffen, herausfinden können, was unser eigenes Care-Wesen ist? Ein Spiel, bei dem wir definieren können, um was wir uns kümmern möchten während unserer Zeit auf der Erde. Und auf welche Art wir uns beziehen wollen – auf uns selber, auf unsere Mitmenschen und unsere nicht-menschlichen Mit-Wesen. Dafür macht es Sinn herauszufinden, welche persönliche Spielart von Care bisher aus einer Angewohnheit heraus betrieben wird. Die eigenen Automatismen zu beleuchten und in Frage zu stellen, kann heilsam sein. Es eröffnet die Möglichkeit zu lernen, sich so zu beziehen, sich so zu sorgen, wie es wirklich dem eigenen Wesen entspricht.
Wenn du magst, mach an dieser Stelle eine Pause und lasse die Frage auf dich wirken, die du das Thema Care in deinem Leben erfährst. Wie sieht deine Care-Gewohnheit aus und führt deine bisherige Strategie zu dem, was du dir wünschst, was du erfahren willst?
Wie möchtest du dich um dich selbst kümmern, dich um andere Menschen sorgen? Dich auf Lebewesen, die Erde und das Leben beziehen?
Wie möchtest du dich um dich selbst kümmern lassen? Von dir selbst, von anderen Menschen, anderen Lebewesen, der Erde, dem Leben?
Wie möchtest du Care für dich neu definieren?
»In der Ikonografie der Wüsten-Aborigines werden vier Aspekte der Gehirnfunktionen dargestellt: Das Geschichtengehirn, das Familiengehirn, das Landesgehirn und das Körpergehirn (von oben nach unten).
Die Gehirngeschichte, Rachel Napaljarri Jurrah, 1994, Zentralaustralien Aus Das Buch der Symbole, Taschen, 2010
Der von Thich Nhat Hanh geprägte Begriff des »Inter-Being« drückt eine Haltung und eine Praxis der Verbundenheit aus, nach der alles miteinander verwoben und wechselseitig voneinander abhängig ist. Du bist ich und ich bin du. Um eben das zu erkennen, brauchen wir einander in unserer Verschiedenartigkeit. Wir brauchen einander in unseren ganz eigenen Anlagen und Gaben. Schließlich verkörpert jedes Wesen spezifische Aspekt eines großen, verbundenen Ganzen. Und nur wenn alle Aspekte da sind, dann spürt sich das Ganze, kann sich entspannen und ausdehnen.
Care ist eine Tasse Tee und die praktische Hilfe beim Ausräumen der Spülmaschine. Care ist ein offenes Ohr für die Sorgen einer Freundin. Care ist gemeinsames Denken und planen. Care ist ehrliche Kommunikation, auch dann, wenn es mal unbequem wird. Care ist Lachen, Weinen und Ruhe. Care ist »Ja« und Care ist »Nein«. Care ist Entspannung und Care ist Atmung, Care ist ausreichend Geld und genug Schlaf. Care ist ein Gefühl. Care ist Schönheit.
Menschen bringen praktische Fürsorge in die Welt. Sie bauen Häuser, pflegen Orte, schmieren Schulbrote, machen das Abendessen und die Wäsche. Sie hüten Wälder, versorgen Kinder und Tiere und wissen, was ganz konkret in jedem Moment gebraucht wird, was zu tun ist.
Menschen verkörpern eine große Kapazität für Energie, Sinnlichkeit und Bewegung. Sie spüren wer traurig ist und fühlen mit. Sie tanzen die Emotion in der Musik und bringen Flexibilität, Intuition und Klarheit in eine Begegnung.
Menschen leben die Qualität von Wärme und Inspiration. Sie bewegen und versammeln andere Menschen um sich herum und sie motivieren zu Taten. Sie probieren aus, spielen und können über sich selber lachen.
Menschen sind Worte und Menschen sind Stille. Sie sind Ideen, Visionen, Strukturen, Verbindungen und Möglichkeiten, die vor ihnen nicht da waren.
Menschen bringen Akzeptanz, Provokation, Großzügigkeit, Wutkraft, Albernheit, Eleganz, Feinfühligkeit, Gelassenheit, Leichtigkeit und unendliche Vielfalt in den Raum des Lebens.
Was sind die Gaben, die nur du in die Welt bringst? Bei was schmerzt dein Herz? Was liegt dir am Herzen? Was suchen andere Menschen bei dir? Wonach fragt dich das Leben?
Körpergehirn
Jeder Körper vermittelt Information, Zusammenhänge, Wissen über die Bewegung von Energie, die wir als Instinkt und Intuition bezeichnen. Die wir wahrnehmen über das Nervensystem, die Sinne, sowie über das Empfinden von dem, was wir als »Emotion« bezeichnen. Wir alle wissen sehr genau, was wir brauchen, was wir wollen und was uns stört. Ebenso spüren wir alle sehr genau, mit wem wir es zu tun haben und wie wir dazu stehen. Wir spüren, hören, sehen, riechen und wissen ganz genau, was abgeht.
Dieses Wissen ist unmittelbar und es folgt einer Ordnung, die so komplex und schnell ist, dass sie chaotisch wirkt. Es ist ein erbarmungslos ehrliches Wissen, manchmal schockierend und wertvoller als Gold. Wer Zugang zu diesem ursprünglichen Wissen hat, hat Zugang zu Kraft und damit zu Macht. Ich verstehe, dass dieses Wissen sich sorgsam versteckt, dass der Weg dahin mit einigen Herausforderungen verbunden ist. Es erfordert viel Übung und so manche Fehltritte, um ein tiefes Vertrauen in die eigene Wahrnehmung zu entwickeln. Es führt zu der Freiheit, sein Eigenes zu erkennen, im besten Sinne alleine sein zu können, um dann im nächsten Atemzug, ausgehend vom eigenen Herz, die wechselseitige Verbundenheit zu spüren, die zwischen allen Herzen besteht.
Über den eigenen Körper sind wir angebunden an das Wissen, von dem ich hier spreche. Hier entwickeln wir ein Gefühl für das Eigene. Wir spüren uns selbst und wir spüren das Feld, in das wir eingebettet sind. Ich mag diesen körperlichen, den emotionalen, den sinnlichen Weg, ich finde ihn gut greifbar und für mich macht er Sinn. Das ist die Art, wie ich gerne lerne und deshalb teile ich mein Wissen darüber mit anderen Menschen. Ich mag den Weg der Kommunikation und der Sprache, die ich über Texte wie diesen hier mit den Menschen teile, die gerne über Worte lernen. Auf beiden Wegen spüre ich mein Herz und manchmal ist das herausfordernd, weil es mich auch mit Angst, mit Schmerz und mit meinen eigenen Begrenzungen in Berührung bringt. Und es lässt mich immer weitergehen.
Bald beginnen die heiligen Rauhnächte, eine Zeit außerhalb der Zeit, die nach innen ruft, dem zu lauschen, was uns wirklich am Herzen liegt. In diesen Tagen bereiten wir die Erde, für das, worum wir uns im kommenden Jahr kümmern wollen. Für das, was wir wachsen lassen möchten. Wir pflanzen die Samen, die uns rufen. Weil sie umsorgt werden möchten. Weil sie bereit sind. Und wir schenken sie der Welt.
(Veröffentlicht am 16.12.2023 auf Matristische Moderne via Steady)