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Ewig dreht sich der Kreis

Der Frühling ist da. Bäume knospen, Bäume blühen, ich schleppe Blumenerde nach Hause und Menschen laufen im T-Shirt und mit offenem Gesicht durch die Straßen.

Das ist mein dreiundvierzigster Frühling. So viele Male habe ich die hellgrünen Knospen platzen sehen, spüren, riechen und wer weiß, was noch für Sinne angesprochen wurden. Als Teenie habe ich jahrelang viel zu früh meine warmen Klamotten gegen Shirts eingetauscht. Das war total cool und ich war jedes Frühjahr erkältet. Irgendwann war ich dauererkältet und daraus wurde dann eine Pollenallergie. Da war ich fünfzehn oder so. Beste Zeit, um eine Allergie zu haben. Dem folgte eine Forschung in Sachen Körperempfindungen. Ich glaube ja, es gibt nicht DIE Pollenallergie, sondern das ist ein lebendiges, sich stetig veränderndes Schauspiel. Manchmal habe ich den Frühling mit Jucken in den Augen, in der Nase oder auf der Haut erlebt. Die Schleimhäute im Rachen sind besonders fies.

Es gab Jahre, da habe ich Schleim und Flüssigkeiten abgesondert und in manchen Jahren, da kämpfe ich mit großer Trockenheit. In einem Jahr hatte ich dann plötzlich große Atemnot und in einem anderen Jahr konnte ich keinerlei Nüsse, Obst, Gemüse und Küchengewürze mehr essen. Viele Jahre lang habe ich mich von diesen überraschenden Allergiewellen tragen lassen, wohin auch immer sie wollten. Völlig willenlos, vernebelt und müde von Zyrtec, Nasen- und Asthmaspray. In einem Winter habe ich dann eine Hyposensiblisierung angefangen, um dann auch im Winter Allergiesymptome zu haben. Das war der behandelnden Ärztin nichts und sie hat das Programm abgebrochen.

Und dann, als ich mit sechsundzwanzig mit meiner Tochter schwanger war, da war jegliche Allergie über Nacht wie weggeblasen. Dieses Wunder hat angehalten, bis ich nach einem Jahr aufgehört habe zu stillen. Dann waren meine Symptome wieder da, doch nie wieder so stark wie vorher. Der Babyschutz hatte auch auf meinen Körper eine nachhaltige Wirkung. Heute bin im Frühjahr einfach oft müde und mein Kopf ist voll und schwer, wenn Pollen fliegen.

Foto Katrin Pauline Müller

Über das letzte Jahr habe ich einen sehr empfindlichen Bauch entwickelt. Ich vertrage Kaffee nicht mehr so gut und ich bekomme nach vielen Lebensmitteln einen schmerzhaft angeschwollenen Unterbauch. Knoblauch, Zwiebeln, Lauch, Paprika und Kuhmilchprodukte mag ich schon lange nicht mehr und esse ich sie nur, wenn es wirklich gar nicht anders geht.

Eine alte Lehrerin aus der HP-Schule, hat mich kürzlich daran erinnert, dass Lebensmittelunverträglichkeiten auch zur Gasbildung im Darm führen können, was dann wie eine Vergiftung fürs ganze System und fürs Gehirn ist. Mache ich mir deshalb so viele Sorgen und neige zu Schuldgefühlen? Mit dieser alten Lehrerin mache ich nun eine ayurvedische Allergiebehandlung. Erst habe ich über viele Tage meine Nahrung, Verdauung, Gewohnheiten, Stimmungen, Schlaf, Energielevel, meine Art mich abzulenken und meine Art mich zu entspannen und noch vieles mehr getrackt. Und dann Verbindungen gezogen. Spannend. Dann habe ich Mustha eingenommen, um Hitze und Schleim auszuleiten. Nun nehme ich Pippali-Pulver mit Waldhonig zu mir. Das ist ayurvedischer langer Pfeffer. Pippali vertreibt überschüssige Luft, regt das Verdauungsfeuer an und reinigt so den Körper von Schlacken. Das heißt auch, dass ich ganz bestimmte Nahrungsmittel esse und vor allem NICHT esse. Kein Sport, keine Aufregung, kein Schwitzen und auf gar keinen Fall Sex. Keine Zigaretten und ich trinke weder Kaffee noch Alkohol. Das alles ist ungewohnt für meine Routinen.

Und ich merke, wie gut es mir tut, meine Routinen zu stören, die seit über einem Jahr noch enger geworden sind. Ich fühle mich hungrig. Ich schlafe tief und bin morgens sofort wach. Und alles leuchtet hell und klar. Vor vielen Jahren habe ich mal eine Fastenkur angefangen. Nach drei Tagen bin ich vom Bioladen am Heinrichplatz nach Hause gelaufen und alles hat geleuchtet. Ich hab mich so erschrocken damals.

Jetzt genieße ich, dass alles leuchtet. Egal, ob das vom klaren Frühlingslicht oder vom Pfeffer kommt. Ich liebe es, wenn sich meine Sinne klar anfühlen und ich tief in ein Bild, in ein Geräusch, in einen Geschmack oder in eine Berührung eintauchen kann. Dann fühle ich mich so lebendig, dass ich Gänsehaut bekomme. Dann spüre ich heiß-kalte Schauer, die mir die Wirbelsäule hoch und runter kribbeln. Mit dieser körperlichen Intensität bin ich ganz ruhig im Kopf und glücklich. Und ich fühle mich als Teil der Natürlichen Welt.

Kali bringt frischen Wind

Mit anderen Menschen ist es für mich nicht immer ganz einfach, wenn ich so klar bin. Einerseits möchten wir alle gesehen werden. Bitte mit allem, was wir sind. Und wenn es dann soweit ist, dann ist es doch zu krass. Ich sehe die Schönheit in mir und in Anderen. Und ich sehe die dunklen Abgründe in uns. Ich glaube, meine Schuldgefühle und mein Misstrauen kommen eher daher. Dann bin immer wieder überrascht über das, was ich an Abgründen, an Verletzungen, Schmerzen, Ängsten und Lügen spüre. Es wird manipuliert und manövriert was das Zeug hält. Und fast alles davon läuft unbewusst ab.

Mit manchen Menschen bin ich ganz klar und ich kann die Dinge, um die es im Kern geht, schnell easy beim Namen nennen. Egal, ob schön oder unschön. Von manchen Menschen nehme ich lieber Abstand, nachdem ich genug gesehen habe. Und mit manchen Menschen bin ich so großzügig, dass ich ihnen alles durchgehen lasse und mich mit allem zeigen kann, was ich bin. Mit anderen Menschen tue ich mich schwerer bei meiner klaren Haltung zu bleiben, Kritik zu üben oder auch meine Zuneigung zu zeigen. Wenn ich da einen Knaller in der Tiefe sehe, höre und spüre, dann bin ich erstmal so überrascht, dass ich geschockt bin.

Schock und Schreck sind sehr intensive körperliche Erfahrungen, doch bei dieser Intensität fehlt mir die innere Ruhe. Wenn ich mich erschrecke, fehlt mir der nötige Abstand, um wertfrei zu bleiben. Ich reagiere ähnlich wie auf die Pollen. Es nervt mich, es stresst mich, es juckt mich und ich bin unruhig und erneut ein Stück willenlos. Es liegt nicht mehr komplett in meiner Hand, ob ich nach links oder nach rechts schaue. Entweder fange ich an zu beobachten oder ich flippe aus. Meistens beobachte ich in meiner Schockstarre erstmal weiter und werde innerlich ärgerlich. Und nach einer Weile flippe ich dann wegen einer Kleinigkeit aus. Oder ich flippe dann aus, wenn durch meine Beobachtungs-Recherche wirklich alles auf dem Tisch liegt. Mit genug Beweismittel sozusagen.

Dann weht Kali-Energie. Und für ihre Energie ist fast niemand bereit. Bin ich bereit für Kali? Kann ich mich selbst mit allem sehen, was ich bin? Und es gut sein lassen? Kannst du dich mit allem sehen, was du bist? Und es gut sein lassen? Denn ich glaube, das ist die Hauptfrage. Wenn wir mit ALLEN unseren Eigenschaften gut sind, dann können wir uns zeigen und uns gegenseitig vollständig sehen. Dann brauchen wir uns nicht länger schützen, vor möglichen äußeren Eindringlingen oder vor inneren Dämonen.

Photo by Mubarak Sheik on Unsplash

Es gibt gerade so viele Meinungskämpfe und Kleinkriege. Zu Selbsttests, zur Corona-Impfung, zur freien Meinungsäußerung und was ist Freiheit überhaupt, zur Kanzler*innen-Frage, zu 5G, zur Klimakrise oder zu Schauspieler*innen. Zu wem was gehört und wer was gesagt hat und übrigens als erstes gesagt hat. Und außerdem, wer zahlt hier was und warum.

Ich glaube wir üben gerade das Sterben. Momentan sterben viele Menschen und das ist schlimm für alle Betroffenen und ihre Familien und Freunde. Das steht außer Frage. Und jede Sekunde, die du diesen Text liest, sterben unfassbar viele Lebensformen dieser Erde, weil wir Menschen die Erde und ihre Lebewesen töten. Im Moment sterben auch viele Normalitäten und Routinen. Es sterben Meinungen und Haltungen und alte Überzeugungen. Es sterben Arbeitsplätze und kulturelle Orte und Projekte. Es sterben Hoffnungen und Reisen. Ein ganzes kaputtes System liegt im Sterben.

Es gibt so viele Arten von Schock und dieser Schock über das Sterben eines kapitalistischen Systems, könnte heilsam sein. Ich spüre Kali mit wild wehenden Haaren am Horizont. Kali, die Zerstörung, Tod und Erneuerung bringt. Menschen mit Nahtoderfahrungen berichten oft von der ähnlichen Erfahrung, wie kostbar das Leben ist, nachdem sie einen Blick auf das erhascht haben, was nach dem körperlichen Sterben auf uns wartet. Ich glaube wir haben jeden Tag genug Gelegenheiten, das Sterben zu üben. Wenn ich Kali-Energie bin, dann stirbt auch eine bestimmte Vorstellung und Erwartung, wie ich zu sein habe (und nicht zu sein habe). Und wer weiß, vielleicht lasse ich mit meinen, vom Pfeffer geklärten Sinnen, irgendwann auch diese seltsam körperlich abgespeicherte Überzeugung sterben, dass Birkenpollen meine Feinde sind, gegen die ich innerlich aufrüsten und kämpfen muss. Um dann am Ende meinen eigenen Körper anzugreifen. Ehrlich gesagt, habe ich das eh nie verstanden, denn ich mag die eleganten Birken sehr.

Eine grundlegende menschlichen Erneuerung und Transformation wird sein, dass wir uns nicht länger als getrennt empfinden von der Natürlichen Welt und von allem, was lebt. Dann sind Birkenpollen keine Feinde mehr. Und wir würden dafür Sorge tragen, dass Menschen leben, dass Tiere leben, dass Pflanzen leben, dass die Erde lebt, dass die Gewässer leben, dass alles lebt. Verbunden mit allem, können wir vielleicht auch akzeptieren, dass alles irgendwann zu Ende geht und dass wir uns stetig verändern. Und so findet der Tod und der Neubeginn wieder einen Platz in unserer Welt.

(Veröffentlicht am 01.05.2021 in Matristische Moderne via Steady)

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