Vielleicht kennst du das folgende Zitat von Antoine De Saint-Exupéry aus dem Kleinen Prinz: “Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.”
Doch wie geht das, mit dem Herzen sehen?
Sehen scheint das Reich und die Aufgabe der Augen zu sein. Mit ihnen schauen und begreifen wir die Welt und geben ihr einen Sinn. Über unsere Sprachen verknüpfen wir Bilder mit mit Worten, den Begriffen und Namen, die wir als zusammengehörig erkennen. Umgekehrt erschaffen wir uns tagtäglich ein Abbild der Welt nach unseren bisherigen Erfahrungen, Ängsten, Wünschen, Erwartungen, nach Absichten und Vorstellungen.
Während ich das schreibe, sitze ich auf einem kleinen Steg, der in einen sehr vollen kleinen See im Wald hineinreicht. Ich spüre und ich höre den Wind, ich sehe die raschelnden Blätter und die kleinen Wellen auf dem See glitzern. Aus den Augenwinkeln bemerke ich helle Sonnenflecken auf den Bäumen aufblitzen und ich weiß, auch ohne Hinschauen, wie das Seeufer ringsum aussieht. Schaue ich mich um, sehe ich die vielen leuchtenden Grüntöne, strahlendes Blau im Wasser und im Himmel, verschiedene Formen und Bewegungen von Bäumen und von Wolken.
Gewohnheitsmäßig lege ich den Kopf ein bisschen zurück in den Nacken und ich schaue mir das beeindruckende Spektakel der Natur genauer an. Lege ich meinen Kopf so nach hinten, dann spüre ich meine Muskeln am Schädelansatz als deutlich verkürzt und angespannt. Auf diese Art schaue ich die Welt nicht mehr direkt an, sondern ich errichte ein Stück mehr Abstand zwischen der Welt und mir. Das erlaubt mit ein bisschen mehr Distanz, in der ich das, was ich sehe in meine Erleben einordnen möchte. Ein Versuch, die Außenwelt aus der Perspektive meiner Innenwelt zu verstehen.
Es gibt so viele Möglichkeiten
Lasse ich meinen Kopf stattdessen gerade auf dem Nacken sitzen und bewege ich stattdessen meine Augen nach oben, beziehungsweise direkt nach vorne, dann lande ich augenblicklich in einer anderen Welt. Die Farben der Bäume leuchten hier sehr viel satter, die Formen sind tief und räumlich, alles ist in Bewegung, flimmert und vibriert lebendig. Der ganze Raum weitet sich hell. Entspanne ich meinen Nacken und lasse seine Rückseite lang und offen, so schaue ich mit den Augen geradeaus durch meine Stirn. Ich sehe, höre, rieche, spüre und fühle den Raum und die verschiedenen Körper seiner Bewohner. Ich nehme einen tiefen Atemzug und ich spüre meinen eigenen Körper neben denen der anderen Menschenwesen, Tierwesen, Pflanzenwesen oder Wasserwesen. Ich nehme noch einen tiefen Atemzug und ich verbinde mich mit dem Raum, den wir alle atmen. Beim Einatmen dehne ich mich nach außen aus und beim Ausatmen entspanne ich mich, lasse mich zurücksinken in meinen Körper und zurücksinken zum Boden.
Und obwohl ich kenne, was ich in dieser farbenfrohen Welt sehe und ich das, was ich sehe in verschiedenen Sprachen benennen kann, so zeigt sich mir auch ein Geheimnis, ein Mysterium für das es keine Worte zu geben scheint. Die alte Lebendigkeit der Baumwesen berührt mich zutiefst. Sie sind so tief, dass mir schwindelig wird und ich mehr Raum im Brustkorb brauche. Ich atme ein und ich bewege die Muskeln zwischen meinen Rippen, dem Zwerchfell, am Rücken. Ich entspanne meinen Bauch. Die intensive Lebendigkeit die ich spüre, sie ist körperlich herausfordernd und ich merke meine Tendenz mich erstmal anzuspannen. Es scheint zu viel. Doch ich mag es nicht, wenn es eng ist und meistens fühlt es sich dann wirklich viel zu viel an. Vielleicht würde mir sogar übel werden von dem ganzen Geflimmer. Also übe ich mich weiter darin, einen großen und flexiblen Körperraum zu haben, indem ich atme, mich ausdehne und mich entspanne.
Wende ich diese Art des Schauens auch im Kontakt mit anderen Menschen an, dann erlebe ich einige Überraschungen. Überraschungen, die ich gleichzeitig befürchte und nach denen ich mich sehne. Die Welt gewinnt ungemein an Tiefe und ich betrachte einerseits die Oberfläche, die wir alle nach Außen präsentieren. Andererseits spüre ich unter der Oberfläche alles das, was auch noch dazugehört.
Foto: Katrin Pauline Müller
Ich sehe große Schönheit in Menschen und ich schaue in Abgründe, die mich erschaudern lassen. Ich spüre, dass beides seine Berechtigung hat, beides seinen Raum, es ist nunmal so wie es ist. Ich muss das nicht alles verstehen und ich brauche auch nicht mit allem einverstanden zu sein. Ich entscheide, wo und bei wem es mir in dieser Symphonie des Lebens gefällt, zu was und zu wem ich aus vollem Herzen JA sagen kann und will.
Dieses Wesentliche, das allem Lebendigen dieser Welt innewohnt, das ist stets da und es hält sich doch verborgen vor der Festigkeit, den Meinungen und den Bewertungen, die wir in uns tragen. Doch sobald wir uns Weichheit, Offenheit, Sensibilität und ein Nicht-Wissen erlauben, dann offenbart es sich mit einem Wimpernschlag. Dann berührt es mein Innerstes, dann spüre und fühle ich das Wesen, dass ich sehe, im eigenen Körper.
Eine Begegnung dieser Art ist intim und sie kommt mit einer Radikalität, die mir manchmal den Atem stocken lässt. Das Wort “Nähe” scheint mir unpassend, doch ich habe kein besseres. Solch eine Begegnung enthüllt alles, was da ist und sie bietet nichts anderes als Freiheit.
In welche Richtung zieht es dich?
Was ich mit diesem Blick ins Herz der Dinge mache, liegt in meiner Hand und ebenso in deiner Hand. Nehmen wir dieses Geschenk an oder lehnen wir es furchtsam ab? Bleiben wir in Schockstarre am Abgrund stehen oder richten wir den Blick nur auf die schönen Aspekte? Können wir auswählen, was wir nah an uns dran lassen und was wir aus größerer Distanz betrachten wollen? Was auch immer wir mit diesem Geschenk machen, es ist und bleibt ein Geschenk. Und es ist sicherlich nicht dazu gedacht, dass wir darunter leiden.
Das, was ich als “Kunst” empfinde, das sind für mich individuelle Ausdrucksmöglichkeiten, die von den intimen Begegnungen mit dem Leben berichten. Formen und Farben, die den Mitmenschen den eigenen Blick in die Abgründe und die Blicke auf das Schöne ermöglichen. Töne und Melodien inspirieren und lassen einen selbst auf die Suche gehen. Tanzbewegungen erinnern an die eigenen Begegnungen mit dem Gewebe des Lebens. Kunst gestattet einen Blick auf die Schöpferkraft des Lebens. Kunst ist spürend und emotional, sie findet eine eigene Sprache.
Bäume verdoppeln sich im blauen Wasser.
Unter dem offenen Himmel,
liegt ein südlicher Geruch.
Und hoffnungsvolle Träume von Verbundenheit unter Menschen.
Nach jedem Blick in den Abgrund
sehe ich mehr Schönheit in mir selbst und in der Welt.
(Veröffentlicht am 11.05.2024 auf Matristische Moderne via Steady)